Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus
Erinnern und Mahnen – auch heute notwendig!
Redebeitrag von Giso Siebert, Vorsitzender der Gemeindevertretung Leegebruch
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie recht herzlich und freue mich, dass Sie unserer Einladung zur heutigen Gedenkveranstaltung gefolgt sind.
Ziemlich genau vor 70 Jahren befreiten die Alliierten auch das Konzentrationslager Sachsenhausen, in welchem Tausende Menschen aus vielen Nationen inhaftiert, gefoltert, ermordet wurden.
Wir wissen mit Blick auf das damalige benachbarte Heinkelwerk, dass viele dieser Menschen in kleineren und größeren Unternehmen der Region ebenfalls unter unmenschlichen Bedingungen zu Zwangsarbeit verpflichtet wurden.
Wir erinnern uns an die Opfer des faschistischen Rassenwahns, der politischen Intoleranz. Wir denken an Menschen aus fast allen Ländern Europas, an sowjetische Kriegsgefangene, die zu Tausenden ermordet wurden; an Menschen, denen ihre jüdische Abstammung zum Verhängnis wurde; an Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen, die sich nicht mundtot machen ließen und deshalb verfolgt wurden; an Homosexuelle, die wegen ihrer Orientierung verfolgt wurden; an Sinti und Roma, die als Untermenschen diffamiert und vernichtet wurden; an Menschen mit Erbkrankheiten oder geistiger Behinderung, die als lebensunwert abgestempelt und hingemordet wurden.
Ja und wir erinnern uns an die, die der verbrecherische Zweite Weltkrieg, Hab und Gut, Gesundheit, Freunde und Familie, die Heimat, die Jugend, das Leben gekostet hat.
Diesen Menschen – meine Damen und Herren – den Opfern des Naziregimes wollen und müssen wir – auch 70 Jahre nach dem Kriegsende gedenken.
Diese Tage – Ende April Anfang Mai 1945 – als „Befreiung“ zu bezeichnen, fiel in der Bundesrepublik Jahrzehnte nach Kriegsende schwer. Erst Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker tat dies als höchster Vertreter der Bundesrepublik vor 30 Jahren mit seiner international vielbeachteten Rede vor dem Deutschen Bundestag. Er betrachtete damals die Befreiung vom Nationalsozialismus und das Kriegsende durchaus mit differenzierender Sichtweise. Er sagte unter anderem:
„Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, daß Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.
Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren. Ungewißheit erfüllte das Land. Die militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser Schicksal lag in der Hand der Feinde. Die Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten?
Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn?
Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft.
Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir können und dürfen froh sein, dass dieses wohl dunkelste Kapitel deutscher Geschichte ein Ende gefunden hat. Es war die Chance auf einen Neubeginn Deutschlands. Der Neubeginn war radikal, musste radikal sein. Dennoch war er nicht in jeder Hinsicht hundertprozentig konsequent. Vor allem in den Köpfen nicht weniger Menschen war der Bruch mit dem Vergangenen so schnell und leicht nicht möglich.
Und da bin ich auch schon in der Gegenwart.
Heute beobachten wir mit Schrecken, wie sich Menschen zu rechtem Gedankengut bekennen. Wir vernehmen rassistische, gewaltverherrlichende Äußerungen. Wir verzeichnen neonazistisch motivierte Drohungen und Angriffe auf Hab und Gut, schlimmer noch auf Leib und Leben.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Ressentiments gegenüber Andersdenkenden, Anders aussehenden, Anders gläubigen, gegenüber vermeintlich Fremden gehegt und gepflegt werden.
Und so lange dieses Gedankengut in vielen Köpfen verhaftet ist, gilt es, an das schlimmste Kapitel deutscher Geschichte zu erinnern, daran, wohin Menschen gebracht werden, wozu sie fähig sind.
Hinsichtlich des oben erwähnten Kriegsleides, sei die Anmerkung gestattet. Auch heute, vielerorts in der Welt und gar nicht so weit von hier in Europa, werden Kriege geführt, fallen Söhne, Väter, sterben Männer, Frauen und Kinder, werden Häuser und Infrastruktur zerstört. So lange dies so ist und damit dies keine Normalität wird, gilt es zu erinnern und zu mahnen.
Und um schließlich unseren lokalen Bezug wieder herzustellen: Auch unsere Region, Menschen, die hier leben und arbeiten, sind nicht frei von Ängsten, Ressentiments, Vorurteilen. Nicht zuletzt angesichts der geplanten Flüchtlingsunterkunft, auch im Interesse des Zusammenlebens in unserem Ort, gilt es: Lassen Sie uns reden, aufklären, dem Erbe des nationalsozialistischen Gedankengutes konsequent entgegentreten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Es spricht nun Dr. Norbert Rohde vom Geschichtsverein Leegebruch.