Statt Berufsschule Fußmarsch nach Berlin
Vor 70 Jahren, am 17. Juni 1953 standen vielerorts die Räder still. Tausende Menschen legten die Arbeit nieder und versammelten sich zu Streiks, Massendemonstrationen und anderen Protestaktionen. Sie forderten u. a. den Rücktritt der Regierung, freie Wahlen und die Freilassung von politischen Gefangenen. Als Auslöser der Proteste galt die Erhöhung von Arbeitsnormen, durch welche sich die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung Bahn brach. Der Aufstand wurde gewaltsam auch mit Hilfe sowjetischen Militärs niedergeschlagen.
Die Teilnahme an den Protesten war gefährlich, konnte Freiheit oder gar Leben kosten. Viele der Streikenden blieben sehr bewusst der Arbeit fern und schlossen sich den Demonstrationszügen an. Über diese Menschen wird dieser Tage in den Medien häufig berichtet. Doch nicht alle Beteiligten waren aus wirklicher Überzeugung dabei. Wir baten Leegebrucher, die in die Dynamik der Ereignisse hinein gerieten, ihre prägenden Lebenserinnerungen aufzuschreiben. Lesen Sie selbst.
Gerhard Kurz erinnert sich
Am 17. Juni 1953 war ich Schweißerlehrling im Ausbildungswerk Hohenschöpping, welches zu den Stahlwerken Hennigsdorf gehörte.
An diesem Tag sollte wie üblich der Berufsschulunterricht um 8 Uhr beginnen. Wir saßen in unserem Klassenzimmer, die Zeit verging, kein Lehrer war zu sehen. Um ca. 8:20 Uhr kamen zwei Lehrer und forderten uns auf, nach draußen auf den Hof zu gehen, in Zweierreihen anzutreten und ihnen dann zu folgen. Weitere Erklärungen gab es nicht, wir kamen natürlich den Aufforderungen nach. Wir gingen zu Fuß durch Hennigsdorf, Heiligensee, Schulzendorf und Tegel Richtung Ost-Berlin, Leipziger Straße. Die Grenzen waren inzwischen geöffnet, dafür hatten bereits die Hennigsdorfer Stahlwerker gesorgt, die schon früher losgegangen waren.
Wir wussten immer noch nicht genau den Grund unseres Marsches, waren aber guten Mutes. Zumal wir unterwegs von den Bürgern gefeiert wurden; man beschenkte uns mit Kuchen, Süßigkeiten und Getränken, unsere Taschen waren voll.
Als wir an einem kleinen Platz an der Leipziger Straße ankamen, sahen wir auf der einen Seite in den Nebenstraßen amerikanische Panzer mit der Besatzung stehen. Auf den Platz kamen kurze Zeit danach die russischen Panzer T 34. Sie konnten sich wohl gegenseitig nicht sehen, so wie wir. Die russischen Panzer wurden von den Demonstrierenden mit Steinen beworfen. Daraufhin zogen sich die Besatzungsmitglieder in ihre Panzer zurück und schlossen deren Luken, um nicht verletzt zu werden. Viele Demonstranten stellten sich vor die russischen Panzer, öffneten ihre Hemden und riefen „Schießt doch!“, worauf die Russen ihre Panzer um die eigene Achse drehen ließen und dann wieder in die Ausgangsposition zurückstellten.
Plötzlich wurde von einigen Besatzungsmitgliedern der Panzer mit dem Maschinengewehr geschossen, aber nicht auf die Menschen, sondern in die Luft.
Wir Lehrlinge und unsere beiden Lehrer waren ca. 150 Meter von diesem Geschehen entfernt und hatten große Angst, auch weil wir immer noch nicht wussten, was eigentlich los war. Unsere Lehrer beschlossen, dass wir wieder nach Hause gehen sollten und holten uns alle wieder in die Gruppe. Wir waren sehr froh, weil wir ein sehr banges Gefühl hatten. In den Berliner Nebenstraßen haben wir auf unserem Rückweg gesehen, wie einige Menschen Büromöbel und Schreibmaschinen aus den Fenstern warfen. Mit diesen Aktionen waren die Stahlwerker nicht einverstanden, dies wollten sie auf keinen Fall und machten das den Menschen auch lautstark deutlich. Auf unserem Rückweg nach Hennigsdorf kamen wir in zahlreiche Kontrollen. Unsere Geschenke, über die wir uns auf dem Hinweg so gefreut hatten, wurden uns teilweise wieder abgenommen.
Ein Lehrlingskollege hatte sich schon am Leipziger Platz von uns verabschiedet, weil er zu seiner Tante nach Westberlin und dort eine Nacht bleiben wollte. Er bat mich, seinen Eltern in Oranienburg Bescheid zu geben, dass es ihm gut gehe und er den nächsten Tag wieder nach Hause kommen würde. Als ich gegen 17:30 Uhr wieder in Leegebruch zuhause ankam, wurde ich von meiner Mutter zuerst mit einer saftigen Ohrfeige empfangen, aber dann umarmt mit den Worten „Schön, dass Du wieder da bist, mein Junge“. Meine Eltern hatten sich große Sorgen gemacht.
Da ich unbedingt noch den Auftrag meines Lehrlingskollegen erfüllen wollte, bat ich meinen Vater, mir sein Fahrrad zu leihen. Damit war er eigentlich nicht einverstanden, weil der Beginn der Sperrstunde um 18 Uhr unmittelbar bevorstand. Ich versprach, mich zu beeilen. Ich fuhr über die Birkenallee, den Schwarzen Weg, über den Kanal, durch Eden nach Oranienburg zu den Eltern meines Kollegen und habe ihnen die Nachricht überbracht. Sie waren sehr froh und haben mir überschwänglich gedankt. In demselben hohen Tempo fuhr ich wieder nach Leegebruch zurück. Obwohl ich es nicht bis 18 Uhr geschafft hatte, war ich damals der Meinung, dem Rekord des Radrennfahrers Täve Schur bei meiner Tour nach Oranienburg und zurück sehr nahe gekommen zu sein. Es hat übrigens niemand gemerkt, dass ich nach Beginn der Sperrstunde noch unterwegs war. Als 16-jähriger Jugendlicher war der 17. Juni ein aufregender Tag für mich. Die Bedeutung dieses Volksaufstandes ist mir erst später bewusst geworden. Im Ausbildungswerk fand in den nächsten Tagen noch kein regulärer Berufsschulunterricht statt, aber irgendwann kehrte der normale Alltag wieder ein.
Gerhard Kurz
Der Autor (86) wohnt in Ottersberg bei Bremen und ist Mitglied im Geschichtsverein Leegebruch.
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